In Memoriam Peter Dienel, 1923-2006

von Antoine Vergne, Berlin 20. Mai 2008

 

Ich werde Dir etwas zeigen, sagte Professor Dr. Peter C. Dienel und nahm einen Flyer aus der Innentasche seiner Jacke. Darauf war zu lesen: Wenn du ein glückliches Leben führen willst, verbinde es mit einem Ziel. Albert Einstein. Siehst du, fuhr er fort, Albert Einstein hatte Recht. Das war im April 2005 während eines Interviews mit Peter Dienel. Mit 82 Jahren schien er zufrieden und ausgeglichen, sein Ziel verfolgend, die von ihm erfundene Planungszelle zu einem regelmäßig genutzten Werkzeug der Politik zu machen. Peter Dienel wurde am 28. Oktober 1923 in Berlin Steglitz geboren, in eine fromme Familie. Den Zweiten Weltkrieg verbringt er im Osten, nicht ohne den Versuch, in Berlin zu bleiben. Am Ende des Krieges meldet er sich bei den Amerikanern und wird in Gefangenschaft gebracht. Bald kehrt er aber nach Berlin zurück. Da studiert er wieder an der Humboldt Universität Theologie. Ab 1952 ist er im sozialen Bereich tätig, in dem von ihm mitgegründeten Steglitzer Jugendheim für Jugendliche‑ aus der Zone. Im Jahr 1961 und nach einem erfolgreichen Soziologiestudium promoviert er bei Helmut Schelsky über die Freiwilligkeitskirche. Die Soziologie war ohne Zweifel die Disziplin von Peter Dienel. Er bezeichnete sie als eine ganz gesunde Wissenschaft. Sein Argument dafür war, dass sie die Welt desillusioniert und erlaubt, der Realität näher zu kommen. Der Soziologe trifft den Missionar Ab 1961 arbeitet Peter Dienel in der Evangelischen Akademie Loccum als Tagungsleiter. 1968 wird er Mitglied des Planungsstabs der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen. Während dieser Tätigkeit bedrücken ihn die üblichen politischen und bürokratischen Entscheidungsprozesse: Sie sind nicht an den dringenden Langfrist-Fragen orientiert, sondern konzentrieren sich immer wieder auf die kurzfristig lösbaren Probleme. Außerdem ist die Partizipation von Laien fast unmöglich. Alles wird hinter verschlossenen Türen entschieden. Als Antwort auf dieses Defizit erarbeitet Dienel ab dem Jahr 1970 das Konzept der Planungszelle (PZ). Damit ist er einer der ersten, die den Weg der partizipativen Demokratie in Deutschland eröffnen. Die Planungszelle definierte Dienel als eine Gruppe von 25 nach einem Zufallsverfahren ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern, die aus erster Hand informiert und assistiert von 2 Prozessbegleitern Lösungen für ein ihnen vorgegebenes, als schwer lösbar geltendes Problem erarbeitet. Diese Zufallsjuroren werden für vier Tage von ihren arbeitstäglichen Verpflichtungen freigestellt und für diese Zeit vergütet. Mehrere solche Planungszellen arbeiten nach dem gleichen Muster, ihre Ergebnisse werden zusammengeführt und als Bürgergutachten veröffentlicht.

 

(erschienen in: Soziologie, 2007, Jg. 36, H. 3, S. 328-330, ISSN 0340-918X)

Soziologie-Professor Peter C. Dienel: „Ein Golfstrom vernünftiger Ideen wird Welle für Welle Fehlsteuerungen korrigieren, die unser System und seine Zukunft heutzutage massiv belasten.“

 

Westdeutsche Zeitung 22.4.2004

 

Viele wenden sich mit Grausen von der Politik ab. Doch ein Wuppertaler Professor weist einen Weg für die Mitbestimmung und gegen die Verdrossenheit des Bürgers. Seine Analyse über unser Gemeinwesen klingt niederschmetternd: „Ein Apparat Professioneller regiert vor sich hin, sitzt Probleme aus, regelt Unerheblichkeit auf das Genaueste und lässt Wichtiges unbesehen liegen.“ Doch Peter C. Dienel kann auch träumen, wie es eines Tages einmal sein könnte: „Ein Golfstrom vernünftiger Ideen wird Welle für Welle Fehlsteuerungen korrigieren, die unser System und seine Zukunft heutzutage massiv belasten.“

 

Beides geht durchaus zusammen. Denn Dienel ist weder frustriert, noch ein unreifer Spinner. Letzteres passt schon nicht mit seinem Lebensalter und seinem Lebenswerk einer geradezu genialen Erfindung zusammen: Der 80-jährige Dienel ist emeritierter Soziologieprofessor der Uni Wuppertal. Und er hat die Planungszelle erfunden.

 

Das Wort klingt zum Gähnen langweilig, ist aber eine wunderbare Alternative in Zeiten von Politikverdrossenheit, in denen bei manchem gar der Glaube an die Demokratie verloren geht: Da missachtet der Bundeskanzler das Parlament, indem er Entscheidungen an nicht gewählte Expertenkommissionen delegiert. Da lassen sich gewählte Abgeordnete immer wieder in die Fraktionsdisziplin einbinden, statt ihrem Gewissen und dem von ihnen als Wählerauftrag erkannten Mandat zu folgen, weil sie andernfalls das Ende ihrer Karriere fürchten müssen. Da reden die Vorturner der Parteien allwöchentlich in ähnlicher Besetzung in den TV-Talkshows und vermitteln dem Zuschauer den trügerischen Eindruck, dabei zu sein.

 

Bleiben für den Bürger im Prinzip nur zwei Alternativen: sich entweder apathisch in dieser Zuschauerdemokratie zurückzuziehen und darauf zu hoffen, dass „die da oben“ kraft ihres Sachverstands schon alles richtig machen. Oder er geht auf die Barrikaden. Auch wenn das nicht immer gleich Steinewerfen oder gar Revolution bedeuten muss, sondern auch eine stimmgewaltige, aber friedliebende Bürgerinitiative sein kann. Der Nachteil solcher Art von Politikbeteiligung: Wer da mitmacht, ist automatisch einseitiger Interessenvertreter, macht Druck in eigener Sache, und das dient nicht automatisch dem Allgemeinwohl.

Beispiel: Die Tiefgarage mag den empörten Anwohnern wegen der Baubelästigung nicht passen, kann aber durchaus im Sinne des Gemeinwohls sein.

 

Der Ausweg, der jedermann, der nicht nur alle paar Jahre auf dem Wahlzettel sein Kreuzchen machen möchte, als erstes einfallen mag: Das Plebiszit, der Volksentscheid. Doch auch dieses Verfahren hat Haken. Nicht nur droht hier die Gefahr durch Demagogie. Auch lassen sich komplizierte Fragen nun mal nicht so vereinfachen, dass sie mit einem Ja oder Nein zu beantworten wären: Soll der Kündigungsschutz gelockert werden? Brauchen wir mehr Zuwanderung? Wer wollte hier mit einem undifferenzierten Ja oder Nein antworten? Hier kommen Dienels Planungszellen ins Spiel, die er schon in den 70er Jahren erdachte und die seither mehr als 300 Mal im In- und Ausland durchgeführt wurden. Zusammengefasst funktioniert das so: Jeweils 25 Personen lassen sich von Experten und unmittelbar von dem Problem Betroffenen vier Tage lang über die zu entscheidende Frage informieren und geben dann ihr Bürgergutachten ab.

 

Als Empfehlung an die Politik oder auch an ein Unternehmen wie etwa kommunale Verkehrsbetriebe. Diejenigen, die dieses Bürgergutachten in Auftrag gegeben haben, werden es schwer haben, den Vorschlag, den diese Politikberater aus dem Volk erarbeitet haben, zu übergehen. „Bürgergutachten produzieren Legitimation“ sagt Dienel, „und das gerade auch für ungeliebte, aber notwendige Maßnahmen“.

 

Die Beteiligten bisher waren es rund 8000 Laiengutachter werden dabei jeweils per Zufallsauswahl aus den Dateien der Einwohnermeldeämter gezogen. Diese Zufallsauswahl ist wichtig, weil sichergestellt werden muss, dass unter den Laienplanern nicht solche sind, die sich bewusst in den Kreis drängen, weil sie ein Eigeninteresse an der vorgelegten Frage haben. Es sollen Unbeteiligte verschiedenster Altersstufen, gesellschaftlicher Gruppen und Berufe sein, die sich in der Runde ganz auf das Gemeininteresse konzentrieren können. In diesem „Erlebnisurlaub Planungszelle“, wie es Dienel nennt, können sie ohne Denkverbote diskutieren und so zu ihrem Votum gelangen. Sei es für die Umgestaltung einer Fußgängerzone, für eine Verbesserung des Zusammenlebens zwischen Deutschen und Ausländern oder auch mal, so geschehen im Auftrag der Stiftung Warentest, über neue oder veränderte Testkriterien.

 

Aber wo ist der Haken an der Sache? Wenn sie wirklich so genial ist, müsste sie sich doch längst mehr durchgesetzt haben. Eine der Ursachen sieht Dienel in der Politik. „Das Verfahren löst Befürchtungen aus, und zwar bei all denen, die in der politisch-administrativen Apparatur tätig sind. Deren Stammhirne sehen hier Besitzstandsprobleme.“

 

Doch der Professor bohrt weiter dicke Bretter, will sich nicht damit zufriedengeben, dass ihm die Politiker das Bundesverdienstkreuz verliehen haben. Er und seine Mitstreiter kämpfen weiter für die Verbreitung seiner Idee, werden sie Ende Mai ins politische Berlin tragen. Auf einen Kongress, an dem dann auch Politiker teilnehmen. Vielleicht ein kleiner Schritt zu dem Ziel, den Sachverstand der Bürger als Chance und nicht als Bedrohung für das eigene Profil zu sehen.

 

Info: Bergische Universität Wuppertal, Forschungsstelle Bürgerbeteiligung, Wuppertal

weitere Rezensionen:

„Die Planungszelle ist ein verblüffend erfolgreiches Modell für die Beteiligung von Bürgern an Planungsentscheidungen. Die Idee: Nach dem Zufall ausgewählte BürgerInnen kommen schneller zu konsensfähigen Entscheidungen über umstrittene Projekte als die oft schwerfällige öffentliche Verwaltung, die auf politische Vorgaben und Lobby-Interessen Rücksicht nehmen muß. Sachgemäße Entscheidungen werden durch gründliche Information der BürgerInnen gewährleistet, sodaß daraus ein Bürgergutachten entsteht.“

(DER SPIEGEL, 20/1995)

„… man kann der ebenso einfachen wie genialen Dienel´schen Planungszelle eine große Zukunft in den Demokratien des 21. Jahrhunderts vorhersagen.“

(Juristen Zeitung, 01/1996)

„Durch die Mitentscheidungsinstanz Planungszelle/Bürgergutachten können deutlich Planungs- und Implementationskosten gesenkt werden.“

(aus: Politische Studien Nr. 361, München, 10/1998)